TextWald
 





 


„Was macht ihr denn an Silvester?“

Wenn sich das Jahr dem Ende entgegen neigt und sich so nach und nach der Vorweihnachtsstress ausbreitet, steht auch sie unweigerlich vor der Tür: Die Frage „Was macht ihr denn an Silvester?“
Fein raus ist da, wer schon seit Monaten den Urlaub auf der Skihütte oder der Karibikinsel gebucht hat. Auch wer sich in das kommerzielle Vergnügen einer Disco-Silvesterparty oder eines Galadiners im Luxushotel stürzt, hat auf diese Frage prompt die Antwort parat. Es bleibt dann aber die große Zahl derjeniger, die noch nicht so recht wissen, was sie an diesem letzten Tag des Jahres anstellen sollen. Gefeiert werden muss, das ist klar. Wer sitzt denn schon am 31. Dezember zu Hause vorm Fernseher? Nein, das kann und darf nicht sein, denn auch wenn sich um Mitternacht nur die Jahreszahl um eins erhöht, kann man nicht so tun, als wäre lediglich ein Monat zu Ende. Wer gibt denn schon gerne zu, dass er dieses Jahr so gar keine Lust zum Feiern hat und lieber einen kuscheligen Abend zu Hause verbringen möchte?
Nach den anfänglichen Ausweichmanövern („Ach, wir überlegen noch ...“), Ablenkungsstrategien („Was macht ihr denn?“) und Hinhaltetaktiken („Vielleicht könnten wir ja bei uns ...“) wird es doch allerspätestens Anfang Dezember Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Vermehrt hört man da schon mal Lob wie „Letztes Jahr Silvester hat es uns so gut bei euch gefallen!“, das von manchen Freunden und Bekannten nicht ohne Hintergedanken geäußert wird.
Das Jahresende rückt näher und näher und nach einigem Hin und Her steht eines Tages der Entschluss fest und man verkündet freudig: „Wir veranstalten eine Silvesterparty bei uns!“ Denn so im Nachhinein betrachtet, war es doch vor einem Jahr wirklich nett gewesen. Und man erspart sich schließlich die Fahrerei und das eventuelle Übernachten in fremden Gefilden.
Ausgewählte Freunde und Bekannte werden eingeladen, erste Überlegungen kulinarischer Art werden angestellt. Die Gäste sollen mit ausgefallenen Köstlichkeiten überrascht werden und man möchte schon etwas mehr als Kartoffelsalat mit Würstchen bieten. Zwei Wochen vorher fragt ein befreundetes Paar an, ob es eventuell noch zwei Leutchen mitbringen kann. Ganz nett und lustig seien die, heißt es, und sie müssten sonst Silvester alleine verbringen. Aber ja, man freut sich und auf zwei mehr oder weniger kommt es schließlich nicht an.
Als Gastgeberin steht man natürlich schon am 30. Dezember in der Küche, schnippelt, köchelt, brutzelt und rührt zusammen. Ja, man hätte auch gemeinsam planen und die Aufgaben verteilen können, aber die Diskussionen hätten sich vermutlich lange über Silvester hinausgezogen. Freundlicherweise hat einer der Eingeladenen unaufgefordert die Verantwortung für eine große Schüssel Fleischbällchen auf sich genommen. Ein weiterer, sehr kurzfristig dazu stoßender Gast will seinen restlichen Räucherlachs mitbringen. Die Gastgeberin ist hoch erfreut und wirbelt weiter eifrig in ihrer Küche umher.
So naht der Silvesterabend und die Gäste trudeln nach und nach ein. Da kommt auch das noch unbekannte Paar an. Vielmehr, es bricht herein. Beide schleppen polternd Plastikkisten mit noch unbekanntem Inhalt in das Haus. Der Mann stürzt sich fast zeitgleich mit der Frage „Wo ist die Küche?“ in dieselbe, um eine gefährlich anmutende Bowle aus diversen Ingredienzien anzurühren. Einige Gäste kann er davon überzeugen, von dem Teufelsgebräu zu trinken, andere bleiben standhaft bei ihrem Sekt oder Bier. Das Essen wird serviert und das unbekannte Paar macht sich sofort bei den Gastgebern beliebt, weil es nach anderem Besteck verlangt. Der Alkohol fließt und die Bowle hat schon ihr erstes Opfer gefunden. Ein Gast sitzt auf dem Küchenboden und hält hochwissenschaftliche Reden, deren Inhalt keiner versteht, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Eine Bekannte hat eine Riesenschüssel Früchtepudding mitgebracht, mit der man locker eine Meute von dreißig Mann versorgen könnte. Leider hat keiner Lust auf etwas Süßes, drei Leute essen anstandshalber davon.
Dann wird es Mitternacht, alle stürzen gleichzeitig in den Flur und drängen sich dort, um sich für die eisige Kälte draußen zu rüsten. Wenigstens kann niemand beim Schuhe anziehen umfallen. Draußen werden Raketen gezündet, jeder bekommt eine Riesen-Wunderkerze in die Hand gedrückt. Nach dem Feuerwerk müssen die verkohlten Überreste eingesammelt werden und alle stürmen wieder nach drinnen. Die Gastgeber freuen sich über die unzähligen Paar Schuhe, die schmutzige Pfützen im Flur hinterlassen und die Gastgeberin verschwindet zuerst einmal im Bad, um sich die rußigen Hände zu waschen.
Die Party muss natürlich weitergehen, so schnell gibt keiner auf. Doch, einer schafft es nicht mehr und erliegt dem Bowlenrausch. Er dämmert langsam ins Reich der alkoholisierten Träume hinüber und zieht sich dann ins Gästezimmer zurück. Die restlichen Gäste versuchen, ein Gesellschaftsspiel zu spielen, was jedoch auf Grund der nachlassenden Artikulationsfähigkeit zur Herausforderung wird. Eine Besucherin klagt über Kreislaufschwäche und legt sich auf das Sofa, wo sie bis zum nächsten Morgen liegen wird. Der männliche Teil des unbekannten Paars wird mit zunehmendem Alkoholgenuss immer ausfallender, allerdings ist jegliche Diskussion überflüssig, weil die Worte nicht mehr in sein Bewusstsein vordringen.
Die Gastgeberin gibt gegen drei Uhr nachts auf und überlässt die restlichen Besucher ihrem Schicksal.
Am nächsten Vormittag wacht sie mit deutlichem Schlafdefizit auf, schleppt sich dennoch in die Küche, um aufzuräumen. Ein Chaos! Die unbekannten Gäste haben ihre sämtlichen Utensilien zurückgelassen, als sie früh am Morgen doch noch ein Taxi bekommen haben. Essensreste, leere und halbvolle Gläser stehen überall herum. Luftschlangen ringeln sich zwischen Chipskrümeln auf dem Tisch. Die restlichen fünf Kilo Schokopudding mit Beerenfrüchten haben sich über Nacht zu einer unappetitlichen Brühe verflüssigt und wandern nun direkt ins Klo, ohne vorher den Umweg über die Verdauungsorgane genommen zu haben. Die Spülmaschine ist voll schmutzigen Geschirrs und noch mehr Geschirr wartet auf die Reinigung.
Wenig später erscheinen Gastgeber und Übernachtungsbesuch und verlangen nach Kopfschmerztabletten.
Inmitten dieses Chaos’ nimmt sich die Gastgeberin vor: „Nächstes Jahr Silvester wird alles anders!“ Ob sie wohl diesem guten Vorsatz treu bleiben wird? Wer weiß, was sie antwortet, wenn in einem Jahr wieder die Frage gestellt wird: „Und was macht ihr an Silvester?“

(Dezember 2003)

Veröffentlicht 2004 im Christmas Magazine


 


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