TextWald
 







 


Die Hügel von Cannes

Sie erwachte aus einem leichten Schlaf. Es war dunkel im Raum, nur der fast volle Augustmond schien durch die halb geöffnete Jalousie. Eine sanfte Brise wehte vom Meer herüber. Wo war sie nur? Dies war doch nicht ihr Hotelzimmer? Sie drehte sich auf die Seite und sah ihn neben sich liegen. Jetzt fiel ihr wieder alles ein. Sie schaute ihn an. Er schlief tief und fest, sie hörte sein leises, regelmäßiges Atmen. Sie seufzte. Warum musste ausgerechnet ihr so etwas passieren? Sie legte sich wieder auf den Rücken, lauschte dem sanften Rauschen des Meeres und dachte über die letzten, so ereignisreichen Tage nach ...

Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie allein in Urlaub gefahren. Ihr Freund oder Lebensabschnittsgefährte, wie man heute sagte, arbeitete intensiv an seiner beruflichen Karriere und war nach seinen Aussagen für die nächsten Monate im Geschäft absolut unabkömmlich. Sie wusste nicht viel über seine Pläne, denn er war in letzter Zeit immer erst spät abends nach Hause gekommen und hatte kaum noch mit ihr geredet.
Zeit für einen Urlaub hatte er jedenfalls nicht, und so hatte sie einen Flug nach Nizza und ein Hotelzimmer mit Meerblick für eine Woche gebucht. Sie wollte vor allem entspannen, in der Sonne sitzen und ein paar Bücher lesen. Aber es kam alles ganz anders ...
Am zweiten Abend aß sie in einem kleinen Bistro an der Strandpromenade zu Abend. Dort sah sie ihn zum ersten Mal. Vielleicht wäre er ihr gar nicht aufgefallen, wenn er nicht direkt in ihrer Blickrichtung gesessen hätte. Zum Glück hatte sie eine Zeitschrift dabei, denn sonst hätte sie ihn andauernd anschauen müssen, während sie auf das Essen wartete. Er sah faszinierend aus: Er hatte dunkle, leicht lockige Haare, sanft gebräunte Haut und ein markantes Gesicht. Er trug einen schlichten weißen Pullover zu einer schwarzen Jeans und sah darin lässig-elegant aus. Sie versuchte, sich wieder auf ihre Lektüre zu konzentrieren, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zum Nebentisch, an dem er saß. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er sie interessiert anschaute. Was mochte er wohl über sie denken? Was das Äußere betraf, so sah er eine attraktive, schlanke Frau Anfang dreißig mit langen glänzenden goldblonden Haaren. Sie trug weiße Jeans und einen azurblauen grobmaschigen Strickpullover, der die blaue Farbe ihrer Augen besonders unterstrich.
Nachdem sie ihr Baguette verspeist und ein Glas Wein dazu getrunken hatte, zahlte sie und stand auf. Sie wollte noch einen kleinen Spaziergang am Strand machen. Sie schlenderte gemütlich die Promenade entlang, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich hörte:
"Excusez-moi, Mademoiselle... "
Sie blieb stehen, drehte sich um... und stand ihm gegenüber! Er strahlte sie aus seinen braunen Augen an, und sie sah, dass er viele kleine Lachfältchen um die Augen hatte.
"Pardon, Monsieur?", fragte sie.
"Vous êtes française?" fragte er.
"Non, je suis allemande", antwortete sie. Immerhin reichte ihr Französisch noch dafür aus.
"Oh, schön, dann wir sprechen deutsch", lachte er sie an. "Aber ich muss erst einmal erklären."
Sein Deutsch war fast perfekt und sie fand, dass er einen umwerfenden französischen Akzent hatte.
"Ja, ich bitte darum", sagte sie.
"Bitte entschuldigen Sie nochmals, dass ich Sie einfach so angesprochen habe. Seit ich sie in dem Bistro gesehen habe, wollte ich Sie unbedingt kennen lernen. Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt - excusez-moi! Mein Name ist Philippe Laclédeschamps."
"Sehr erfreut, ich heiße Katharina Lehmann."
"Aahh, Catherine, ein schöner Name!", rief er mit einem strahlenden Lächeln.
Sie gingen noch eine ganze Weile spazieren, zuerst an der Strandpromenade, später stiegen sie eine Treppe zum Strand hinunter, zogen die Schuhe aus und liefen barfuß weiter über den noch warmen Sand. Währenddessen erzählte er ihr, dass er lange Zeit in Straßburg gelebt hatte und auch einige Semester in Deutschland studiert hatte – daher stammten auch seine guten Deutschkenntnisse. Er liebte das Meer, deshalb lebte er auch mittlerweile hier an der Côte d'Azur. Mehr verriet er jedoch nicht über sich. Sie war zwar neugierig, mehr zu erfahren, aber da er sie nicht nach ihrer Herkunft und ihrem Leben befragte, wartete auch sie erst einmal ab.
Mittlerweile war es schon dunkel geworden. Sie sagte, sie wolle jetzt ins Hotel zurück. Er schaute sie traurig an und gestand ihr, dass er sich nur sehr ungern von ihr trennte. Ihr ging es nicht anders, aber sie wollte sich nicht gleich am ersten Abend auf etwas einlassen, was sie danach vielleicht bereuen könnte.
Er begleitete sie zum Hotel. Vor der Eingangstür nahm er ihre Hand und schaute ihr tief in die Augen. Sie bekam ganz zittrige Knie und hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen.
"Ich hole dich morgen Abend um acht Uhr hier ab", versprach er ihr. Sie nickte und lächelte ihm glücklich zu.
"Bonne nuit, Chérie." Mit diesen Worten war er verschwunden.
Sie ging wie im Traum in ihr Hotelzimmer. Sie konnte es gar nicht fassen, was geschehen war. In dieser Nacht schlief sie kaum, sie dachte immer nur an ihn, Philippe, ihren französischen Traumprinzen.

Später konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern, wie sie den nächsten Tag verbracht hatte. All ihre Gedanken waren schon beim Abend. Pünktlich um acht Uhr klopfte es an ihrer Tür. Sie öffnete und sah einen riesigen Strauß honigfarbener Rosen vor sich. Dahinter tauchte Philippe auf.
"Die schönsten Rosen für die schönste Frau", lachte er sie an. Er stellte den Kübel mit den Rosen auf den kleinen Tisch, wandte sich dann zu ihr um und begrüßte sie wie in Frankreich üblich mit Küsschen auf die Wangen.
Dann trat er zwei Schritte zurück, schaute sie an und sagte leise: "Tu es si belle."
Sie fühlte sich geschmeichelt, dass er sie schön fand. Aber noch mehr freute sie sich, wieder mit ihm zusammen sein zu können.
"Ich habe einen Tisch in einem Restaurant reserviert, mit wunderschönen Meerblick, très romantique", erzählte er ihr, während er sie zu seinem Auto führte. Sie fuhren in seinem Sportwagen die Küstenstraße entlang. Der Blick auf das Meer mit der langsam untergehenden Sonne war traumhaft. Sie genoss den Ausblick, den Fahrtwind, der sanft durch ihr Haar wehte – und natürlich seine Gegenwart.
In einem kleinen romantischen Ort hoch über der Küstenstraße hielt er an. Sie stiegen aus und er führte sie durch verwinkelte Gässchen zu einem kleinen Restaurant.
"Hierher finden Touristen nur sehr selten, weil es so versteckt liegt", sagte Philippe, als sie an dem für sie reservierten Tisch Platz genommen hatten. "Deshalb liebe ich es so sehr."
"Es ist wunderschön hier." Sie lächelte ihn an und konnte ihr Glück immer noch nicht fassen.
Das fünfgängige provenzalische Menü war köstlich. Sie glaubte, nie besser gegessen zu haben. Aber vielleicht lag es auch nur an ihrem Gegenüber. Nachdem sie zum Abschluss noch einen Café Noir getrunken hatten, schlenderten sie durch die warme Nachtluft zum Auto zurück.
"Jetzt zeige ich dir noch etwas Wunderschönes, Chérie", flüsterte er ihr zu. Sie hatte das Gefühl zu träumen. Was würde sie wohl jetzt noch erwarten? Er lenkte sein Auto wieder auf die Küstenstraße zurück. Kurz vor Cannes bog er ab und fuhr eine schmale kurvenreiche Straße bergauf. Oben angekommen hielt er den Wagen an.
"Komm mit mir", forderte er sie auf. Sie schaute ihn fragend an. Er nahm ihre Hand und führte sie einen schmalen Pfad bergauf. Nach ein paar Metern lichteten sich die Büsche und sie standen plötzlich auf einer Kuppe, die den ganzen Blick auf die Stadt, das Meer und die Umgebung freigab.
"Wo sind wir hier?", fragte sie und schaute sich mit verzücktem Lächeln um. Sie kam sich vor wie verzaubert hier oben, unter sich die glitzernden Lichter der Stadt und über sich die blinkenden Sterne.
"Voilà, les collines de Cannes – die Hügel von Cannes!"
Er legte seinen Arm um sie und zog sie sanft an sich.
"Bleibst du heute Nacht bei mir, Chérie?", fragte er leise.
"Ja", flüsterte sie ihm zu.
Sie waren wieder zum Auto hinunter gegangen, einige Kilometer die Küstenstraße entlang gefahren, dann war er in eine schmale Straße Richtung Meer abgebogen. Nach ein paar Metern hielt er an einem großen Tor an, das sich auf Knopfdruck öffnete. Der Wagen rollte langsam den Kiesweg entlang bis zum Haus. Sie war überrascht: So schön hatte sie es sich nicht vorgestellt. Die Villa im mediterranen Stil lag direkt am Meer. Er öffnete die Tür, nahm ihre Hand und führte sie durch mehrere Räume auf die große Terrasse. Er verschwand wieder drinnen und kam mit zwei Gläsern Wein zurück. Sie tranken den Wein, genossen den wunderbaren Blick auf die leise rauschenden Wellen und die warme Nachtluft. Irgendwann nahm er ihr das Glas aus der Hand, führte sie in das Schlafzimmer und legte sie auf das große Bett. Er küsste sie lange und zärtlich und plötzlich hatte sie das Gefühl, von einem Strudel immer tiefer und tiefer gezogen zu werden wurde. Dann wurde es Nacht um sie herum.

Als sie erneut erwachte, dämmerte es schon. Katharina blinzelte vorsichtig und schloss dann wieder die Augen. Das Meeresrauschen war nicht mehr zu hören, zudem war es empfindlich kühl geworden. Sie lag nun mit halb geschlossenen Augen auf dem Bett und ließ noch einmal die Ereignisse des letzten Abends und der Nacht in ihren Gedanken vorbeiziehen. Aber - letzte Nacht – Moment, was war da passiert? Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, was genau geschehen war. Das letzte, was sie noch wusste, war die Tatsache, dass Philippe sie ins Bett getragen und geküsst hatte. War sie dann etwa ohnmächtig geworden? Während sie dalag und angestrengt nachdachte, hörte sie plötzlich ein Geräusch neben sich – ein leises Schnarchen, das nach und nach lauter wurde. Ach, sieh mal an, auch so ein charmanter Franzose schnarcht, dachte sie. Dann schlug sie die Augen auf und war von einer auf die andere Sekunde hellwach. Nein, dies hier war keine Villa am Mittelmeer, sondern eine Reihenhaussiedlung in der Vorstadt. Sie lag nicht in seidener Bettwäsche, sondern in robuster hundertprozentiger Baumwolle. Neben ihr schlief nicht der Herzensbrecher Philippe, sondern ihr Angetrauter namens Peter. Und sie selbst war auch nicht diese schöne blonde Katharina, sondern nur die durchschnittlich hübsche Katrin. Willkommen zurück in der Realität, sagte sie zu sich, kuschelte sich lächelnd in die Kissen und träumte noch ein wenig weiter.

(2000, geändert 09/2002)


 


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