TextWald
 







 


Der Gärtner

Laura hatte den ganzen Vormittag konzentriert an ihrem PC gesessen und die Briefe und Protokolle getippt. Jetzt wurde sie aber durch ein lautes Hämmern draußen gestört. Auch ihre Kollegin Karoline schaute auf. "Was ist denn jetzt los?", fragte sie.
Laura stand auf und schaute aus dem Fenster. Vor der Bürofront wurde gerade eine Grünfläche angelegt und dort kam auch der Lärm her. Auf den ersten Blick sah sie mehrere Männer, die dort draußen arbeiteten. Auf den zweiten Blick sah sie ihn. Sie starrte ihn fasziniert an. Er sah aus, wie man sich einen Surfer auf Hawaii vorstellt: Halblanges blondes, leicht gewelltes Haar, groß, schlank, aber gleichzeitig muskulös. Ein Traum von einem Mann!
"Hey, das scheint ja mächtig interessant zu sein", hörte sie Karoline von hinten rufen. Und schon stand sie neben ihr. "Was gibt ‘s denn zu sehen?"
"Och, nichts Besonderes", murmelte Laura. Sie hätte gegenüber ihrer Kollegin nie zugeben, warum sie so interessiert aus dem Fenster geschaut hatte. Karoline würde sie dann ständig damit aufziehen.
"Hast du den Blonden da gesehen?", fragte Karoline und schaute sie grinsend an. "Nicht übel, was?"
"Keine Ahnung", zuckte Laura mit den Schultern. Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, aber ihr Blick wanderte ständig wieder vom Bildschirm nach draußen in den Garten.
"Du, ich gehe mal diesen Berg Unterlagen hier kopieren. Kann länger dauern." Mit diesen Worten verschwand Karoline aus dem Büro.
Laura atmete erleichtert auf. Sie stand auf und blickte wieder aus dem Fenster. Fasziniert schaute sie zu, wie er mit einem riesigen Hammer Pflöcke in die Erde schlug, um daran die jungen, frisch gepflanzten Bäumchen festzubinden. Selbst unter dem dicken schwarzen Wollpullover konnte sie seinen kräftigen Oberkörper und seine muskulösen Arme erahnen. Sie stellte sich vor, wie er nach der Arbeit seinen verschwitzten Pullover ausziehen würde. Darunter trug er sicher ein schlichtes weißes T-Shirt, das seine sonnengebräunte Haut noch besser zur Geltung brachte.
Hinter ihr ging die Tür auf und Karoline kam mit den kopierten Unterlagen zurück. Laura tat schnell so, als ob sie etwas im Schrank neben dem Fenster suchte. Es wäre ihr peinlich gewesen, von Karoline erwischt zu werden. Dann setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch und tippte weiter an dem Protokoll. So richtig konnte sie sich nicht darauf konzentrieren, immer wieder hörten ihre Finger wie von selbst mit dem Tippen auf und ihr Blick schweifte zum Fenster.
Mittlerweile waren die Gärtner ein Stück weiter gewandert und arbeiteten nun direkt vor ihrem Fenster. Zwei der Männer gruben Löcher für die Bäume, während der Blonde, gestützt auf den Stiel des großen Hammers, daneben stand und zuschaute. Plötzlich drehte er sich um und ging einen Schritt auf das Fenster zu. Laura erschrak im ersten Moment, aber dann fiel ihr ein, dass er sie durch die verspiegelten Fensterscheiben von außen gar nicht sehen konnte. Er stand also vor dem Fenster, das er als Spiegel benutzte und strich sich das verschwitzte Haar nach hinten. Laura starrte ihn gebannt an.
"Wow, der ist ja schnuckelig!" Laura fuhr herum und sah, dass Karoline genau wie sie dem Blonden zusah. "Den würde ich gern kennen lernen." Laura senkte schnell den Blick und fragte scheinbar ahnungslos: "Wen?" "Na, diesen blonden Adonis direkt vor deinem Fenster! Hast du den etwa noch nicht entdeckt?" "Wie - ach so - nö", stotterte Laura. Eifersucht regte sich in ihr. Wieso musste sich ausgerechnet auch Karoline für diesen Mann interessieren? Konnte nicht einmal dieser Wunschtraum ihr allein gehören? Sie mochte Karoline nicht besonders. Die Kollegin war vor sechs Monaten in ihre Abteilung gekommen und hatte es schon geschafft, alle interessanten Aufgaben an sich zu reißen. Sie, Laura, schuftete sich ab, während die Neue das gesamte Lob einheimste. Und jetzt auch noch das! Wütend hämmerte sie die Buchstaben in die Tastatur und versuchte, nicht mehr nach draußen zu schauen.
Eine halbe Stunde später waren die Gärtner fertig mit ihrer Arbeit. Laura beobachtete, wie sie ihr Werkzeug auf die Ladefläche des Lkw packten; dann sah sie die beiden älteren Männer einsteigen und wegfahren. Der Blonde war verschwunden. Sie seufzte leise. Dann wandte sie sich wieder ihrer Schreibarbeit zu. "Was soll's", dachte sie, "den sehe ich sowieso nie mehr wieder. Kurz nach vier schaltete sie ihren PC aus und nahm ihre Tasche. "Tschüs, Karoline, ich gehe heute mal ein bisschen früher. Morgen mach ich dafür länger." Im selben Moment ärgerte sie sich, dass sie das gesagt hatte. Sie brauchte sich doch vor ihrer Kollegin nicht zu rechtfertigen! Etwas gereizt und verärgert über sich selber verließ Laura das Büro.
Lustlos ging sie den langen Flur entlang Richtung Ausgang. Trotz des Sonnenscheins kam ihr alles grau und trübe vor. Sie ging durch die Drehtür und blieb einen Moment davor stehen, um tief durchzuatmen. "Hallo", sagte da eine Stimme, die von rechts unten kam. Sie drehte sich um und schaute hinunter: Da saß der blonde Gärtner und schnitt die Rosenstöcke. Er grinste sie an und seine strahlend blauen Augen leuchteten ihr entgegen. "Hallo", antwortete sie leise und lächelte. Dann bog sie in Richtung Parkplatz ab. "Bis morgen", rief er ihr hinterher. "Bis morgen?", dachte sie. Ja, morgen - das würde ein schöner Tag werden.

(April 2003)


 


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