TextWald
 



 

Leseprobe

Sandra schaute aus dem Fenster. Es regnete.
„Typisches Wetter für einen Sonntag“, dachte sie, „da hat man wirklich keine Lust, vor die Tür zu gehen.“
Es war wieder einer der Tage, an denen sie nichts Rechtes anzufangen wusste und sich langweilte. Dabei hatte sie sich ihr „neues“ Leben ganz anders vorgestellt. Vor genau drei Wochen war Wilfried ausgezogen. Acht Jahre lang hatten sie hier zusammen gewohnt. Nun war sie also wieder Single. Ganz allein lebte sie allerdings nicht. Ihr Mitbewohner Mizio, ein großer roter Norwegischer Waldkater, teilte die Wohnung mit ihr.
Mit einem eleganten Sprung landete der Kater neben ihr auf der Fensterbank.
„Hallo Mizio“, begrüßte sie ihn und kraulte ihn hinter den Ohren.
Er begann sofort zu schnurren und streckte sich wohlig zwischen den Blumentöpfen aus. Sandra war glücklich, dass sie wenigstens ihn hatte, denn bisher war es ihr noch nicht gelungen, ihr verändertes Leben so richtig zu genießen. Kino, Schwimmen, Essen gehen, neue Leute kennen lernen – all das hatte sie sich vorgenommen. Doch es fiel ihr nicht leicht, sich nach so vielen Jahren der Zweisamkeit allein unter Menschen zu wagen.

Sandra schaute noch immer dem Regen zu, der die Straße in nasses, trübes Grau verwandelte. Da klingelte es stürmisch an der Tür.
„Das muss Britta sein“, dachte sie, „man erkennt sie schon am Klingeln.“
Sandra eilte zur Tür, drückte auf den Öffner und spähte ins Treppenhaus. Sie hörte eilige Schritte auf der Treppe. Britta bog um die letzte Ecke und wedelte mit etwas in der Hand.
„Das musst du dir unbedingt anschauen!“, rief sie. „Total klasse!“
„Nun komm erst mal herein. Was hast du denn da mitgebracht?“
Sandra schob ihre Freundin in den Flur und schloss schnell die Tür hinter ihr, denn Mizio lugte schon neugierig nach draußen. Britta ließ sich, noch ganz außer Atem, im Wohnzimmer auf das Sofa fallen.
„Ich hab fast die ganze Nacht kein Auge zugetan“, legte Britta los, „so begeistert war ich davon. Das ist genau das Richtige für dich.“
„Von was redest du überhaupt? Und warum konntest du nicht schlafen?“ Sandra verstand überhaupt nicht, um was es ging.
„Hier, das Programm für den PC. Damit kannst du dich online mit Leuten unterhalten.“
Britta zeigte auf das Päckchen, das sie mitgebracht hatte. Sandra sah, dass es eine CD-ROM war.
„Dann erzähl mal in Ruhe, was es damit auf sich hat“, forderte Sandra sie auf, „aber warte noch eine Minute, ich hol uns erst etwas zu trinken.“
Als Sandra wieder aus der Küche zurück war, berichtete Britta, dass sie das Programm von einem Arbeitskollegen bekommen hatte.
„Thomas hat mir ständig davon erzählt, und irgendwann bin ich neugierig darauf geworden. Du meldest dich einfach an, denkst dir einen schicken Namen aus, und schon geht es los“, erklärte sie. „Dann kannst du dich mit anderen Leuten unterhalten, die genauso wie du an ihrem PC sitzen. Also, unterhalten heißt schreiben. Aber es ist wie eine Unterhaltung, weil du sofort siehst, was jemand schreibt. ‚Chatten’ nennt man das.“
Sandra schaute sich interessiert die Beschreibung auf der Hülle an.
„Ich war ja nun schon einige Male im Internet, aber so etwas habe ich noch nicht ausprobiert. Welche Leute trifft man da so an? Sind das nicht alle Spinner und Weltfremde, die Tag und Nacht am PC sitzen?“
„Aber nein“, lachte Britta, „sozusagen ganz normale Leute wie du und ich. Ich hab gestern Abend schon einen sehr interessanten Typen kennen gelernt.“
„Ach was, erzähl mal!“
„Er ist Anfang 40, Arzt mit eigener Praxis und wohnt in Stuttgart“, erzählte Britta. „Jedenfalls macht er einen sehr sympathischen Eindruck. Ich bin schon ganz gespannt auf sein Foto.“
„Jetzt hast du mich aber auch neugierig gemacht“, sagte Sandra, „dann zeig mir doch mal, wie das funktioniert.“
„Mit Vergnügen! Komm, schalt deinen PC ein!“ Brittas Augen blitzten vor Freude, sie konnte es kaum abwarten, Sandra mit ihrem Fieber anzustecken. „Zum Glück hat dein Verflossener den nicht mitgenommen. Ein gutes Geschäft, wenn du mich fragst, aber du kennst ja meine Meinung über ihn ...“
Sandra grinste. Britta war nie besonders gut mit Wilfried ausgekommen. Nachdem sie sich getrennt hatten, hatte Britta erleichtert zur ihr gesagt: „Endlich hast du’s getan! Ihr beiden habt doch nie zusammen gepasst.“ Sandra fragte sich, warum sie ihr das nicht früher gesagt hatte, aber wahrscheinlich hätte sie sowieso nicht darauf gehört.
„So, gleich können wir anfangen.“ Britta war schon fleißig dabei, das Programm zu installieren. „Und keiner wird uns dabei stören.“
Diese Bemerkung bezog sich auf das, was vor drei Wochen zwischen Sandra und Wilfried vorgefallen war. Sandra dachte an diesen Sonntag zurück. Der Tag war zunächst ganz normal verlaufen, abgesehen davon, dass Wilfried überraschenderweise nicht wie üblich ins Fitness-Studio gegangen war. Er lag auf dem Sofa vor dem Fernseher und schaute sich eine Sportsendung an. Sandra hatte sich an ihrem Computer zurückgezogen. Sie hatte vor kurzem die spannende Welt des Internet entdeckt und dort wollte sie sich heute einmal umschauen. Und wie schnell doch die Zeit damit verging! Irgendwann stand Wilfried in der Tür des Arbeitszimmers. Seinem Tonfall nach schien er verärgert, worüber Sandra sich sehr wunderte. Er fragte sie, warum sie denn die ganze Zeit am PC sitze und nicht bei ihm im Wohnzimmer. Sandra antwortete, dass sie sich eben nicht für Sportsendungen interessiere. Wilfried verschwand wieder im Wohnzimmer. Sandra ärgerte sich über Wilfrieds vorwurfsvollen Ton. Wenn er ständig zum Sport ging, konnte sie doch wohl einmal ein paar Stunden vor dem Computer sitzen. Kurze Zeit später erschien Wilfried wieder, er war nun total wütend, stürzte an den PC, schaltete ihn einfach aus, und verlangte, Sandra solle ihm sofort etwas zu essen machen. Sandra glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Sie rief ihm zu, er solle sich selbst etwas kochen, sie habe jetzt keine Lust und Zeit dazu. Wilfried ging in die Küche, Sandra hörte ihn eine Weile dort geräuschvoll hantieren. Dann kam er wieder zurück und fragte sie, ob sie denn noch mit ihm zusammen sein wolle. Und das war der Moment, in dem Sandra dachte: „Jetzt oder nie!“ Und sie antwortete ihm: „Ich denke, es ist besser, wenn wir uns trennen.“
Als ob Wilfried nur darauf gewartet hätte, war er innerhalb von zehn Minuten aus der Wohnung verschwunden und tauchte dann nur noch ein paarmal auf, um seine Sachen abzuholen.

„So, fertig! Und jetzt folgt eine kleine Präsentation.“ Mit diesen Worten rief Britta ihre Freundin wieder in die Realität zurück. Sie hatte das Programm eingerichtet und meldete sich unter ihrem Namen an.
Gespannt schaute Sandra zu. Zunächst wählte Britta den Chatbereich aus. Es öffnete sich ein Fenster, in dem alle verfügbaren Chat-Räume angezeigt wurden.
„Du findest hier Chats zu allen möglichen Themen, Computer, Film, Sport oder einfach Kaffeeklatsch. Und wenn du jemanden kennen lernen möchtest, gehst du am besten hierhin." Sie bewegte den Mauszeiger zum Button „Liebe & Bekanntschaften" und klickte darauf. Wieder erschien eine lange Liste mit Raumnamen.
„Auf was hast du Lust? Wie wär's mit ‚Herzklopfen', ‚Frankfurt bei Nacht', oder vielleicht ‚Flirt am Kaminfeuer'?", schlug Britta vor.
„Egal, irgendetwas Nettes", lachte Sandra.
„Dann schauen wir mal hier rein", sagte Britta und betrat den Raum ‚Frankfurt bei Nacht'.
Die nächsten zwei Stunden verbrachten die beiden vor dem PC und Sandra verstand langsam, warum ihre Freundin so begeistert war. Sie hatten schon einige Bekannte von Britta angetroffen und waren freudig begrüßt worden. Da waren zum Beispiel ZebraHufe, Lasagne28, DerPrinz, PegasusXL und MK1509. Britta war als „Venezia“ unterwegs.
„Ist dein Online-Freund auch da?", fragte Sandra.
„Nein, der hat heute Abend Notdienst. Aber schau, hier ...", Britta deutete auf ein kleines Fensterchen rechts auf dem Bildschirm. „Dort würde sein Name erscheinen, wenn er online wäre. Er heißt übrigens ‚DoktorBaer’.“
„Wie originell, der Herr Doktor“, grinste Sandra.
„So, nun brauchen wir noch einen hübschen Namen für dich. Was hältst du von ‚Klementine’?“ Britta kugelte sich vor Lachen über ihren Einfall.
„Nee, nicht so etwas Altmodisches“, lehnte Sandra ab.
„Dann vielleicht ‚Bücherwurm’, weil du so viel liest?“
„Das klingt langweilig, hast du nicht eine bessere Idee?“
„Hm, lass mich mal nachdenken ... Vielleicht irgendetwas mit deinem Sternzeichen? Löwenfrau zum Beispiel?“
Sandra schaute nachdenklich zu Mizio hinüber, der sich mittlerweile auf dem Schreibtisch häuslich niedergelassen hatte. Er gähnte herzhaft und ließ seine spitzen Zähne sehen.
Britta lachte. „Hilfe, dein Kater sieht manchmal so gefährlich aus wie ein Löwe!“
„Warte, ich hab eine Idee. Mal schauen, ob es funktioniert.“ Sandra tippte den Namen ein und drückte dann die Enter-Taste. Britta schaute ihr dabei gespannt über die Schulter. Und nach ein paar Sekunden erschien die Meldung „Herzlich willkommen, Löwenmaul“ auf dem Bildschirm.
„Super!“, freute sich Sandra. „Wie findest du meinen Namen?“
„Der gefällt mir sehr gut“, grinste Britta, „dann kannst du jetzt loslegen. Und ich muss schnell nach Hause in mein Bettchen, morgen steht eine Klassenarbeit auf dem Plan. Da muss ich mindestens so fit sein wie meine Schüler.“
Als Britta weg war, ging Sandra zurück an den Schreibtisch, um den PC auszuschalten. Doch dann zog sie den Stuhl heran, setzte sich und loggte sich zum ersten Mal in den Chat ein ...


 

 


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